Misión Adulam
Ich arbeitete in einem Heim für drogenabhängige Kinder und Jugendliche, von denen die meisten von der Straße kamen. Im Alter von etwa 14 bis 18, in Ausnahmen auch bis zu 21 Jahren waren die jungen Erwachsenen, die sich in der Misión Adulam, wie die Institution offiziell heißt, durch Therapie und Bildung von ihrer Abhängigkeit kurieren und in die Gesellschaft (re-)integrieren wollten. Der überwiegende Teil der Kinder wurde entweder von zuhause rausgeschmissen oder hielt es dort einfach nicht mehr aus und kämpfte sich so durch das raue und bittere Leben auf der Straße. Kleber ist aufgrund seines günstigen Preises und seiner einfachen Erwerbsmöglichkeiten die am meisten konsumierte Droge. Daneben spielt aber auch medizinischer Alkohol eine Rolle, von dem schon wenige Tropfen genügen, um eine Wirkung zu verspüren. Wenn man die Verhältnisse der Kinder kennenlernt wird verständlich, warum viele den Weg in den Dauerrausch wählen.
Im Programm sind i.d.R. eineinhalb Jahre für den kompletten Durchlauf der drei Therapiephasen eingeplant, wobei Jungs, Mädchen und Paare jeweils in den separaten Häusern Adulam, Talita Cumi und Jesed voneinander getrennt leben. Gleich zu Beginn musste ich jedoch lernen, dass die meisten schon vorher den schwierigen Prozess wieder abbrechen und zurück auf der Straße landen. Das dürfen sie, das ist ihre Entscheidung, denn die Arbeit ist auf freiwilliger Basis, aber es macht betroffen.
Franziscos Träume im Straßengraben
In den ersten Wochen hatte ich bereits die Chance, Franzisco und Rubén, zwei der Straßenjungs, persönlich etwas kennen zu lernen. Ich verstand mich auf Anhieb gut mit ihnen, sie waren zwei sympathische Jungs in meinem Alter, der eine 17, der andere 21 Jahre alt. Wir redeten viel und ich lernte über ihr Leben und über die Misión. Ich erinnere mich noch gut daran, da fragte ich Franz eines Tages nach seinen Träumen. „Was ist dein Wunsch, wie dein Leben in 10 Jahren aussehen soll?“, fragte ich ihn damals. Mit einem Lächeln im Gesicht erzählte er mir, er wolle Sprachen lernen und nachdem er die Schule fertig gemacht habe Besitzer eines dieser kleinen Läden werden, wie man sie häufig in La Paz findet. Mit seinen Kenntnissen könne er sich mit allen Touristen unterhalten und ihnen als Kunden damit den besten Service bieten. Außerdem wolle er eine Frau und Kinder haben, selbst eine Familie gründen. Ich war begeistert von seinen Visionen und wollte ihn mit allen Mitteln dabei unterstützen.
Einen knappen Monat später verließ er die Institution. Er traute sich nicht, mir die Wahrheit zu sagen und so behauptete er beim Abschied, bereits geheilt zu sein. Naiv beglückwünschte ich ihn und wünschte ihm alles Gute. Es sollte aber nicht lange dauern, bis ich die Wahrheit erfuhr: Er hielt den Entzug nicht mehr aus, ging zurück auf die Straße und wurde wenige Tage drauf von anderen Jungs völlig zugedröhnt und schmutzig in einer der dunklen Ecken des Plaza Balivian aufgefunden. Die Illusion der heilen Zukunft lag weinend neben ihm.
Die Realität traf mich hart und ich lernte, dass es bereits ein riesiger Erfolg war, wenn auch nur ein Einziger den Kampf gegen sein bisheriges Leben gewann. Meine Arbeitskollegin Jenny, auch eine deutsche Freiwilligendienstleistende, berichtete von ähnlichen Erfahrungen im Mädchenhaus. Zudem erschütterte uns, dass man die Kinder der Drogenopfer nicht zu ihrem Schutz von ihren Müttern separiert und fern von Suchtmitteln aufzieht, schließlich können die jungen Frauen in ihrer Situation ihren Kindern in keinerlei Hinsicht ein Vorbild sein. Aber würde es ihnen im Kinderheim besser gehen? Wahrscheinlich nicht allen, aber sicherlich dem vierjährigen Renato, der kurz nach der Selbstentlassung seiner Mutter aus Talita Cumi bei einem ihrer nächtlichen Ekstasetripps wortwörtlich „verloren ging“ und auch eine Woche später noch immer spurlos verschwunden blieb.
Während ich mich langsam an diese absurde Welt gewöhnte, entwickelte ich gemeinsam mit Jenny einen für die Kinder angepassten Englisch-Lehrplan. Zweimal pro Woche sollten wir Sprachunterricht geben und am Ende jeder Einheit dem Chef die Ergebnisse eines Abschlusstests zukommen lassen. Nach dem damals noch nicht allzu lang zurückliegenden Abitur war das Lerntempo geradezu einschläfernd, aber natürlich war das die erforderliche Geschwindigkeit für die Jungs und Mädchen, schließlich waren die meisten von ihnen in puncto Bildung nur minimal gefördert worden und/oder waren aufgrund ihres Drogenkonsums in ihrer mentalen Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Frustrierend wurde es, als sich das großflächige Fehlen von Respekt, Disziplin und Ehrgeiz schon in der dritten Unterrichtsstunde als schier unüberwindbares Hindernis herausstellte. Nach einigen Wochen, nachdem bereits alle mir bekannten "Erziehungsmaßnahmen" aufgebraucht waren, hatte ich die Nase voll und redete mit meinem Chef (schon von Natur aus eine Autorität für sich) der sich wie immer Zeit nahm und gemeinsam mit mir neue Lehrmethoden entwickelte, die peu a peu dann auch Früchte trugen. Obwohl weder mein Englisch-, noch mein Computerunterricht im Verlauf des Jahres von hohem Konzentrationsniveau strotzten, bin ich dennoch der Meinung, den Jungs ein wenig der Materie vermittelt haben zu können.
Neben dem Sprach- und Technikunterricht entwickelte ich durch das häufige Kochen eine Art Faszination dafür und freute mich von dort an jedes Mal drauf, wenn ich wieder an der Reihe war, das Mittagessen samt Suppe vorzubereiten. Zu meiner großen Freude überlebten sogar 7 der 10 Hühner, die ich am Anfang des Jahres auf dem großen Wochenmarkt für die Misión gekauft hatte und auch die zwei Enten quakten bis zu meinem Abflug glücklich in ihrem Stall. Es ist mir bis heute nicht ganz klar, warum die Hennen das mit dem Eierlegen nicht so ganz verstanden haben und auch nicht, warum der von den Jungs gebaute und regelmäßig gereinigte Teich unsere wasserscheuen Enten ganz kalt ließen. Trotz allem aber haben die Tiere meine Kids beschäftigt, unsere Institution belebt und, noch viel wichtiger, ihnen Verantwortung und Vertrauen gegeben, denn sie hatten mit in der Hand, ob die kleinen Racker überleben oder nicht.
Das tägliche miteinander Leben, Lachen und Streiten, die gemeinsamen Aktivitäten vom spaßigen Backen bis zum anstrengenden Wandern in den Bergen haben uns alle ein Stück weit miteinander verbunden. Obwohl ich die Jungs so manches Mal gerne „ans Kreuz genagelt” hätte, genoss ich im Großen und Ganzen die familiäre Bindung, die zwischen Therapeuten, Lehrern und Kids bestand und uns alle doch etwas gernhaben, besser kennenlernen und vor allem einander schätzen lernen ließ.
Als Freiwilligendienstleistender bewegt man nicht die große Welt, aber man lernt Individuen kennen, schenkt ihnen viel Zeit und bereichert sich gegenseitig in einer Art und Weise, die ganz einmalig und wertvoll für beide Seiten ist. Ich wäre sehr stolz und zufrieden, wenn auch einige der Jugendlichen in der Zukunft von unseren gemeinsamen Erfahrungen zähren und profitieren können und die Zeit, die wir zusammen verbrachten, als hilfreich und lohnenswert ansehen können.